04.09.24 zurück

Jens Krauer: Eingebettet in den Rhythmus des urbanen Lebens

Strassenfotografie bedeutet, den Moment zu erkennen, bevor er verschwindet – und genau darin liegt Jens Krauers Stärke. Als Fotograf und Geschichtenerzähler fängt er das Leben in urbanen Räumen ein, ungestellt und authentisch. Sein neues Buch In Plain Sight zeigt genau das: eine Sammlung von Begegnungen, die für alle sichtbar sind, aber oft nicht wahrgenommen werden. Ein Gespräch über das Sehen, das Übersehen und die Kunst, im richtigen Moment da zu sein.
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Jens Krauer

Jens Krauer

Jens Krauer ist ein renommierter Street- und Dokumentarfotograf mit Sitz in Zürich. Seine Arbeiten erfassen den «entscheidenden Moment» des urbanen Lebens und erzählen eindrucksvolle visuelle Geschichten aus Städten wie New York, Istanbul, Paris, Kiew und Hongkong. Als Mitglied des BULB Collective verbindet er seine präzise Beobachtungsgabe mit einer tiefen Sensibilität für den Alltag unterschiedlichster Kulturen.

Im Dezember 2024 wurde sein Fotobuch In Plain Sight – Candid Urban Encounters beim Kehrer Verlag veröffentlicht. Die Sammlung authentischer Strassenfotografien aus 10 Jahren auf der Strasse fasst seine künstlerische Vision zusammen und bietet einen einzigartigen Einblick in das Leben auf den Strassen weltweit. Krauers Werke wurden international ausgestellt, insbesondere in Europa und den Vereinigten Staaten.

Neben seiner eigenen fotografischen Praxis engagiert er sich als Mentor und Dozent und gibt sein Wissen in Workshops und Seminaren weiter. Dabei lehrt er sowohl aufstrebenden als auch etablierten Fotograf:innen die Kunst des kreativen visuellen Storytellings und das Gespür für den perfekten Moment in der Strassenfotografie.


Du bist nun seit 10 Jahren als Fotograf unterwegs. Was brachte Dich zur Fotografie, und wie hat sich Deine Sichtweise in den letzten 10 Jahren verändert?

Meine persönliche Lebensgeschichte hat mich dorthin geführt, wo soziale Schichten aufeinandertreffen – auf die Strasse. Ich habe nicht nur verschiedene gesellschaftliche Milieus kennengelernt, sondern sie über lange Zeiträume selbst erlebt. Dadurch fühle ich mich in diesem Spannungsfeld besonders wohl.

Als Jugendlicher war ich mit der, wie ich es nenne, «unaufgeforderten Verschönerung» des städtischen Aussenraums beschäftigt – mit Farbdosen im Rucksack. Heute sind es eine Kamera, ein Pass und ein Notizbuch, aber die Grundhaltung ist geblieben: Die Strasse ist für mich ein kreativer Raum.

Die Fotografie hat mich vor zehn Jahren gefunden – nicht umgekehrt. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, sondern sie hat sich als das perfekte Medium für mich erwiesen. Mit ihr konnte ich die Welt, in der ich mich ohnehin bewegte, erkunden und festhalten. So fand ich schnell meinen Platz: auf der Strasse.

Meine Haltung ist heute pragmatisch: Am Ende zählt nur das Bild. Selbst bei den renommiertesten Fotograf:innen bleiben am Schluss vielleicht fünf bis zehn Bilder oder ein Buch, an das man sich erinnert. Alles andere – die Diskussionen, der Hype, die Theorie – sind Nebenschauplätze. Während vieles vergessen wird, bleibt nur das Bild.

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Apropos Sichtweise: Dein neues Buch trägt den Titel IN PLAIN SIGHT. Welche Stimmung willst Du mit Deinem Buch auslösen?

Jedes Subjekt in diesem Buch ist für jeden jederzeit sichtbar. Es spielt sich direkt vor unseren Augen ab – Dinge, die wir oft bewusst ignorieren oder übersehen. Doch sie sind überall, eingebettet in den Rhythmus des urbanen Lebens.

Das Einzige, was uns daran hindert, sie wahrzunehmen, ist unser eigener Blick. Alles liegt offen vor uns, wir müssen nur bereit sein, hinzusehen und uns damit auseinanderzusetzen.

Alle Subjekte in diesem Buch sind mir beim Gehen durch Städte begegnet. Nichts ist verborgen, nichts ist schwer zu finden – man muss nur genau hinsehen, auch wenn es die eigene Komfortzone herausfordert.

Was spricht für Dich gegen farbige Bilder und was macht für Dich den Reiz der Schwarzweissfotografie aus?

Ich denke in visuellen Konzepten und im Kontext meiner Strassenfotografie war für mich von Anfang an klar, dass ich gewissen Traditionen dieses Genres folgen möchte. Mein Ziel war es stets, einen «Body of Work» zu schaffen, der visuell klar konzipiert ist und als solcher erkennbar bleibt.

Der historische Kontext hat mich zur Schwarzweissfotografie geführt, doch ihre wahre Stärke sehe ich in der Reduktion auf das Wesentliche: den Moment, den Inhalt, die Komposition und das Licht. Die klare Lesbarkeit von Schwarzweissbildern empfinde ich als grossen Vorteil in der Strassenfotografie. Farbe lenkt oft vom eigentlichen Moment ab oder beschönigt den Inhalt. Dennoch bewundere ich viele Strassenfotograf:innen, die Farbe meisterhaft einsetzen. Für mich persönlich entfaltet sich die grafische Qualität jedoch stärker, wenn die Farbe fehlt.

In der Dokumentarfotografie hingegen ist Farbe essenziell. Serien oder konzeptionelle Arbeiten profitieren enorm von der Farbgebung, da sie zusätzliche Aspekte der Realität vermitteln. Während Farbe in der Dokumentarfotografie oft eine entscheidende Rolle spielt, ist sie für mich in der Strassenfotografie eher zweitrangig.

Betrachtest Du Dich als Street-Fotograf, oder wie würdest Du Dich in der Fotografie einordnen?

Einerseits, ja, ich bin Street-Fotograf. Doch im grösseren Kontext geht es in der Strassenfotografie um weit mehr: improvisieren, denken, reagieren, mit Menschen umgehen. Bilder in öffentlichen Räumen entdecken, anstatt sie zu planen. Es geht darum, offen zu sein für die Möglichkeiten, die einen umgeben.

Diese Herangehensweise verbindet eine ganze Familie der Fotografie, die auf denselben Prinzipien basiert – darunter Reportage, Social Documentary, Documentary und natürlich die Streetfotografie. Letztere ist letztlich Dokumentation ohne festen Rahmen oder vorgegebenes Konzept. Meist beginnt sie als eine Sammlung von Einzelbildern, die durch die Ästhetik und den Blick der Fotografin oder des Fotografen miteinander verbunden sind. Sobald jedoch ein Konzept ins Spiel kommt, bleibt die Technik zwar identisch, doch die Absicht verändert sich: Man verfolgt einen klar definierten Inhalt, den man vermitteln möchte, und schafft damit eine Serie oder Sequenz, in der das Storytelling über die gesamte Bildstrecke hinweg Priorität hat.

Ich sehe mich als jemanden, den man mit einer Kamera an jedem beliebigen Ort absetzen kann – und der dann die Geschichte dieses Ortes und seiner Menschen findet. Ganz im Sinne des Ansatzes «Documenting the Human Condition».

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«Angst ist nie ein guter Begleiter.»

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Welchen Herausforderungen begegnest Du als Fotograf in Deiner Arbeit?

Die Herausforderungen variieren je nach Genre. Auf der Strasse geht es darum, zu sehen, bereit zu sein und Dinge spontan zu entdecken. Ein gutes Gespür für die Strasse und die Menschen hilft enorm. Man darf keiner Begegnung ausweichen – Angst ist nie ein guter Begleiter. Deshalb trete ich fast allen Menschen offen gegenüber. Sie spüren, ob man ehrlich und transparent in seiner Absicht ist oder nicht.

In der Dokumentarfotografie ist die Herangehensweise eine andere, das Ziel jedoch bleibt dasselbe: Vertrauen aufbauen. Es geht darum, eine Basis zu schaffen, präsent zu sein und einen Grund für die eigene Existenz im Umfeld eines Themas zu haben. Während es auf der Strasse oft nur eine kurze, flüchtige Begegnung ist, entsteht in der Dokumentarfotografie über Wochen oder Monate hinweg ein Vertrauen, das die Arbeit erst möglich macht.

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Du warst vorher in einer komplett anderen Branche tätig. Wie hast Du Dir das fotografische Wissen angeeignet und was gibst Du jemandem mit, der sich in die Fotografie vertiefen will?

In den ersten zwei Jahren meiner Fotografie habe ich niemandem meine Bilder gezeigt, war aber täglich auf der Strasse unterwegs. Statt meine Arbeiten zu präsentieren, habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt, was ein gutes Bild ausmacht und nach welchen Prinzipien es sich rationalisieren lässt. Ich habe jeden Blog, jeden Podcast und jedes verfügbare Video zu diesem Thema exzessiv konsumiert. Aus dieser tiefgehenden Auseinandersetzung heraus entwickelte sich mein Verständnis für Fotografie.

Mein Rat: Setzt euch wirklich detailliert mit der Thematik auseinander. Heute sind nahezu alle Informationen online verfügbar. Entscheidend ist jedoch, möglichst früh zu erkennen, was man will, und dann gezielt nach relevanten Inhalten zu suchen. Je schneller man ein Genre oder eine fotografische Richtung für sich entdeckt und sich ihr konsequent widmet, desto klarer wird der eigene Weg – ebenso wie die Quellen und Informationen, die helfen, sich weiterzuentwickeln.

Dazu ein wichtiger Punkt: Fotografiert niemals für Algorithmen, sondern für euch selbst – in eurem eigenen Tempo, mit eurem eigenen Stil. Trends sind kurzlebige Fallen ohne langfristige Substanz.

Wenn die Zeit reif ist und genügend Arbeiten vorhanden sind, lohnt es sich, mit Profis in den Bereichen Editing und Sequencing zu arbeiten. Wertvolles Feedback ist nicht immer nur positiv – oft braucht es professionellen und konstruktiven Input, um entscheidende Entwicklungsschritte zu meistern.

Bücher und Ausstellungen sind ebenfalls essenzielle Quellen. Sie vermitteln nicht nur Wissen, sondern auch eine Vorstellung davon, in welchem Format sich die eigenen Arbeiten langfristig präsentieren lassen.

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«Ich könnte von einem Tech-Head nicht weiter entfernt sein»

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Wie wichtig ist Dir die Technik und wie hat sich Deine Technik über die Jahre entwickelt? Würdest Du Dich als «Tech-Head» bezeichnen oder gehst Du da eher «nach Gefühl»?

Ich könnte von einem Tech-Head nicht weiter entfernt sein. Genau deshalb liebe ich meine FUJIFILM-Kameras – sie ermöglichen mir, mich voll und ganz auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Kamera ist für mich ein Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger. Ihre grösste Qualität besteht darin, dass sie im Prozess keinerlei Aufmerksamkeit erfordert und einfach funktioniert. So simpel das klingt – etwas Besseres kann eine Kamera nicht tun, das ist für mich eine herausragende Leistung.

Technik ist für mich etwas, das man lernt, so wie ein Musiker Tonleitern lernt. Doch sie sollte niemals die Priorität im kreativen Prozess haben. Neue Möglichkeiten und verbesserte Arbeitsweisen interessieren mich sehr, weil sie meinen Spielraum erweitern können. Aber ins technische Detail vertiefe ich mich nur, soweit es für meinen Workflow relevant ist.

Ich benutze meine Kamera, weil sie herausragende Ergebnisse liefert – nicht, weil sie ein faszinierendes Tech-Objekt ist.

10 Jahre lang bist Du schon mit Deinem «Scannerblick» unterwegs und versuchst dabei authentische Momente einzufangen. Gab es in dieser Zeit besonders herzliche Begegnungen, die Dir bis heute in Erinnerung bleiben?

Man begegnet allen Facetten des menschlichen Zusammenlebens: Tragik, Glück, Verlust, Triumph, Ignoranz und Menschlichkeit – um nur einige zu nennen. Die Emotionen des Alltags sind unendlich vielfältig und in den unterschiedlichsten Formen allgegenwärtig.

In fast jeder Stadt, in der ich unterwegs bin, habe ich Freunde und Bekannte. Irgendwo wartet immer ein Sofa oder ein Gästebett. Und dann gibt es all die Begegnungen während des Fotografierens: den Chai mitten in der Nacht an der Galata-Brücke in Istanbul mit einem kurdischen Flüchtling, die Gespräche in einer Seitenstrasse von New York mit Menschen, die nichts besitzen ausser dem, was sie bei sich tragen – oder mit jenen, die in der Ukraine an der Front stehen. Es sind Menschen, deren Leben weit ausserhalb der durchschnittlichen Komfortzone liegt. Diese Begegnungen bleiben mir in Erinnerung – sie sind genauso wertvoll wie die Bilder selbst.

Neben den Bildern sind es vor allem die menschlichen Begegnungen, die mich faszinieren: das Eintauchen in das Leben, die Kultur und die Lebenswelten anderer Menschen. Es ist für mich ein Privileg, Beobachter und Dokumentierender zu sein – monatelang durch urbane Räume zu streifen, um diese flüchtigen Augenblicke festzuhalten. Doch nicht nur die Bilder bleiben: Ich nehme auch neue Bekanntschaften und vertraut gewordene Orte mit nach Hause. Diese Erfahrungen sind für mich unglaublich bereichernd – weit über die Fotografie hinaus.

Fotos & Text: Jens Krauer

Im Rahmen seiner ersten Buchpublikation plant Jens Krauer eine Ausstellung seiner Werke, die vom 28. März 2025 bis zum 30. April 2025 im Lichthof in Zürich stattfindet.

Bist Du interessiert an Photowalks mit Jens Krauer? Stay tuned und schau regelmässig in unsere Events rein.

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