Eine weitere Besonderheit von Lynchs Arbeiten?
Er braucht keine Kamera, um diese Bilder zu produzieren. Lynch arbeitet aus den Archiven, was in der Fotografie eine grosse Sache ist. Er kommt aus der analogen Fotografie, aber die Tatsache, dass er Photoshop als Werkzeug sieht, zeigt, wie experimentell diese Spielwiese für ihn ist. Und letztlich erinnert es an den Surrealismus, denn in den 1930er Jahren spielten die surrealistischen Künstler wirklich mit diesen Themen – den Träumen, den Albträumen, den seltsamen, verzerrten Welten – und versuchten, Bilder über diese Fremdartigkeit oder Seltenheit zu produzieren. Für mich stellen seine Fotografien eine Hommage an den Surrealismus dar.
Zu welchen Schlussfolgerungen kann die Ausstellung, und in diesem Sinne die Besucher, kommen?
Was ist der Zusammenhang zwischen einer Fabrik und einem Akt? Überhaupt nichts! Die Ausstellung zeigt, wie die Fotografie einen in eine Welt der Träume, der geheimnisvollen Atmosphären, der Dunkelheit entführen kann. Man spürt diese sehr seltsame Atmosphäre vor den Fabriken, aber auch bei den Akten. Die Art und Weise, wie er mit diesen Themen umgeht, ist für mich sehr Lynch. In diesem Sinne besteht die Lektion darin, zu sehen, wie ein Künstler verschiedene Sujets so fotografieren oder behandeln kann, dass man als Betrachter das gleiche Gefühl hat, was letztlich sehr speziell für seine Arbeit ist – auch im Kino. Er nähert sich dem fotografischen Medium auf eine sehr freie Art und Weise, das Medium erlaubt eine Menge Freiheit. In diesem Sinne ist Lynchs Oeuvre sehr spezifisch.
Warum ist es wichtig, gerade in aussergewöhnlichen Zeiten wie diesen, sich mit der Vermittlung und Ausstellung von Fotografie zu beschäftigen?
Zeitgenössische Kunst mag manchen Menschen elitär erscheinen. Fotografie hingegen ist etwas, das für ein breiteres Publikum zugänglich ist. Fotografie ist heute unser Smartphone! Jeder kann Fotos machen und sie teilen – und das tun wir auch. Ich denke, wir sind heute visuell versierter als früher, und soziale Netzwerke haben die Art und Weise, wie Fotografie gezeigt und geteilt wird, radikal verändert. Dennoch sind wir immer noch sehr naiv, was Bilder angeht. Das sagt eine Menge über unsere Kultur aus. Die Art und Weise, wie wir die Dinge betrachten, ist eine extrem eingeschränkte Sichtweise. Und sie ist Teil einer visuellen Geschichte, die auf einer westlichen Bildsprache basiert. Ich denke, wir sollten mehr diskutieren, um uns bewusster zu machen, was Fotografie ist, welche Geschichten oder Narrative Fotografien erzählen. Wir sollten zum Beispiel unseren Kindern beibringen, Bilder zu lesen, zu verstehen, was sie erzählen können und dass sie manipuliert werden können. Dass sie nicht die Realität sind, das sind sie nie.
Welche Rolle werden und sollten Ihrer Meinung nach Kurator*innen und Fotograf*innen in der Fotografie der Zukunft spielen?
Als Kuratorin für Fotografie möchte ich eine breite Palette von Künstlern oder Menschen zeigen, die mit Fotografie arbeiten und das in eine Ausstellung einbringen. Denn eine Ausstellung ist eine Gelegenheit oder eine Umgebung, um etwas zu betrachten, das zum Nachdenken anregen kann. Ich kann David Lynch ins Museum bringen, aber ich kann auch Bilder ins Museum bringen, die ich in den sozialen Medien gefunden habe. Denn ich denke, sie sind genauso die Bilder von heute. Wir sollten sie uns bewusster anschauen. Und professionelle Fotografen haben hier eine Rolle, wie sie Bilder produzieren und sie in unsere visuelle Geschichte zurückbringen. Wir leben in einer spannenden Zeit, was Bilder angeht. Die Bilder, die produziert werden, sagen viel über eine Gesellschaft, eine Kultur aus. Für mich ist das ein faszinierendes Feld. Wir dürfen die Bilder nicht vernachlässigen. Sie helfen uns, die Gegenwart zu verstehen.
Über das IPFO Haus der Fotografie
Image © David Lynch „Emily Scream #1
Image © David Lynch „Snowman #1
Image © David Lynch „untitled (Factory, Lodz)
Image © David Lynch „untitled“ (Black and White Nude)
Image © David Lynch „untitled“ (Color Nude)