16.09.21 zurück

Der Foto-Knigge der Street-Fotografie.

Zürich, New York, Istanbul, Jens Krauer kennt die Strassen dieser Städte wie seine Fototasche. Wir haben mit dem «streetsmarten» Zürcher Fotografen gesprochen, der eine Sympathie für Underdogs hat und schon in seiner Jugend die Liebe zur Strasse entdeckte. Erst über Umwege, oder sagen wir Seitenstrassen, fand er zu seiner Berufung. Was wir von ihm gelernt haben: Wer Angst auf der Strasse hat, sollte lieber zuhause bleiben, wer keine Angst hat, sollte auch lieber zuhause bleiben. Was denn nun? Wie man die richtige Balance findet, die besten Entscheidungen trifft und wieso Empathie das wichtigste Element im Rucksack eines Streetfotografen ist, erfahren wir von einem Künstler und Fotografen, der feinfühlig den Fokus auf Menschen richtet.
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Tipp Nr. 1:  Mach’s einfach

Jens Krauer hat einen gut bezahlten IT-Operations Manager Job in der Sportindustrie, als er das Fotografieren für sich entdeckt. Er arbeitet im Ausland, kommt mit Fotos nach Hause, die Anklang finden, die als gut befunden werden. Jens Krauer will herausfinden, was denn an den Fotos so gut ist. Dann nimmt alles seinen Lauf. Er fotografiert zwei, drei Jahre lang, ohne es jemandem zu zeigen. Als er wieder zuhause ist, hängt er seine Krawatte an den Nagel und die Kamera um seinen Hals. Er kündigt seinen sicheren Job und setzt auf die Fotografie. Es fühlt sich richtig an. Wenn du an etwas glaubst und etwas machen willst, dann machst du es einfach. Schaut man sich Biografien von Künstlern an, so haben alle eins gemeinsam: Es ist nie ein gerader Weg. Das zu wissen, hilft.

Tipp Nr. 2: Entscheide dich

Wenn du dich für Streetfotografie entscheidest, entscheidest du dich dafür, ganz viele Entscheidungen zu treffen. Uff, das tönt anstrengend. Ist es auch. Es geht ja schliesslich auch um Menschen und nicht um Pflanzen. Bevor du dich also mit deiner Kamera auf Menschen stürzt, nimm dir Zeit, dir ein paar Fragen zu stellen und dir auch gleich selber die Antworten zu geben. Also, schön wieder die Kamera einpacken, zurück in die Wohnung und ganz entspannt und ruhig erstmal Tipp Nr. 3 lesen.

Tipp Nr. 3: Wieso machst du das?

Die wichtigste Frage, die du dir stellen solltest, ist: Wieso mache ich das? Wenn du diese Frage nicht beantworten kannst, dann mach’s nicht, denn du hast mit Menschen zu tun. Was du tust, hat einen Einfluss auf dein Gegenüber und das musst du dir ganz genau überlegen. Stell dir weitere Fragen wie: Was mach ich, was mach ich nicht, was ist moralisch korrekt, in welchem Moment drücke ich ab, in welchem Moment nicht? Ganz schön viele Fragen, aber als Streetfotograf trägst du nicht nur eine Kamera, sondern auch viel Verantwortung.

Tipp Nr. 4: Die Sache mit der Autorenschaft

Du hast die Autorenschaft auf den von dir gemachten Bildern. Diese musst du rechtfertigen und vertreten können. Und wenn du das nicht kannst, dann wird’s schwierig. Du kannst nicht einfach wahllos mit einer Kamera auf Menschen losgehen und dann nicht erklären können, weshalb du das gemacht hast. So und nun gehen wir mal zusammen fiktiv auf die Strasse.

Tipp Nr. 5: Mach dich unsichtbar

Wenn jemand weiss, wie er sich unsichtbar macht, dann Jens Krauer. Mit einer Körpergrösse von 1,95 m sticht er aus der Masse hervor. In seinen Workshops vermutete jemand, die Leuten hätten Angst vor ihm und würden ihn deshalb in Ruhe lassen, doch darüber lacht Jens Krauer nur und schüttelt den Kopf. Entscheidend ist, beweg dich nicht hektisch, renne nicht, steuere nicht auf Menschen zu, bleib entspannt und ruhig, sowohl im körperlichen Ausdruck als auch in der Bewegung. So bleibst du unsichtbar.

Tipp Nr. 6: Finde deine Rolle

Egal, wie du aussiehst, ob Mann, Frau, klein, gross, jung, alt, finde deine Rolle. Integriere dich mit deinem Auftreten und mit deiner Aussenwirkung in eine Situation, damit du dort organisch existieren kannst. Das hat auch was mit Schauspiel und Psychologie zu tun. Wenn du aufgrund deines Erscheinungsbildes weisst, wie du dich verhalten musst und wo du dich hinstellen kannst, dass das von aussen gesehen logisch Sinn macht, dann funktioniert das.

Tipp Nr. 7: Geh einen Schritt zurück

Wenn du merkst, dass deine Anwesenheit oder die deiner Kamera einen negativen Einfluss auf jemanden haben oder dieser Person nicht guttun, dann geh ein paar Schritte zurück. Denn wir wollen niemals etwas Schlechtes bewirken. Erkennst du, wie du an einem Ort sein kannst, ohne negativ aufzufallen, dann hast du die Menschen wahrgenommen.

Tipp Nr. 8: «Street Smartness» kann nicht schaden

Jeden Tag mehrere Schlägereien und lautstarke Auseinandersetzungen. So stellen sich viele die Arbeit eines Streetfotografen vor. Immer diese Fantasie. Die Realität sieht ganz anders aus und zwar so: Du wirst beim Fotografieren entdeckt, die Person kommt auf dich zu und fragt dich, was du da machst. Für diesen Fall solltest du dir im Vorfeld schon mal Antworten überlegen, denn du bist in der Bringschuld und obwohl der erste Reflex ist, zuzumachen, solltest du die Karten auf den Tisch legen. Eine mögliche Antwort ist: Das bin ich, das mach ich, lass mich das erklären, hier ist meine Karte, das ist meine Website und das ist meine Mission. Und wenn du bei deinem Gegenüber dieses verdächtige Gefühl eliminiert hast und klar wird, dass deine Motivation künstlerischer Natur ist, glätten sich die Wogen sofort. Schnauzt dich dein Gegenüber an, nimm es nicht persönlich, das sind Menschen, die morgens auch den Busfahrer anschreien. Und 99 Prozent davon kannst du mit ein bisschen «Street Smartness» selber abfedern.

Tipp Nr. 9: Finde die Balance der Angst

Wenn Jens Krauer die Teilnehmer in seinen Workshops fragt, wovor sie Angst haben und als Antwort: «vor nichts», zurückkommt, dann beunruhigt ihn diese Antwort mehr als alle anderen Antworten. Reiner Mut reicht für die Strasse nicht aus. Stell dich darauf ein, dass Leute auf dich zukommen. Es läuft nicht komplett reibungslos ab, aber die Reibung ist nicht immer negativ. Hör auf dein Bauchgefühl, wenn es dir sagt, das ist jetzt nicht gut, ich sollte vielleicht besser gehen. Aber es ist auch wichtig, keine Angst zu haben. Finde die Balance, weil Angst überschattet alle anderen Wahrnehmungen und du solltest in dieser Situation das Feingefühl behalten.

Tipp Nr. 10: Saug alles auf

Geh raus und vorbehaltlos und vorurteilslos auf Menschen und Sachen zu, für Wochen oder Monate, saug alles auf, nimm alles an. So lernst du extrem viel über die Welt. Die meisten Menschen leben in ihrer «Bubble», bewegen sich in ihrem Umfeld. Als Streetfotograf lernst du viel über andere Lebensweisen. Das ist eine sehr coole Lebenserfahrung.

Tipp Nr. 11: Sei geduldig

Jens Krauers Bilder sind nicht gestellt. Um den echten Moment zu erwischen, brauchst du viel Geduld. Manchmal schiesst du 10’000 Bilder, um ein Gutes zu bekommen. Und von diesen guten Bildern musst du etwa 50 oder 60 hinkriegen, um ein Gewicht zu haben, sonst sind es nur Einzelaufnahmen und das reicht nicht für einen «Body of work». Aber den echten Moment zu erwischen, das ist Gold wert. Die Chance dafür ist relativ klein, dafür ist das Erfolgserlebnis um so grösser, wenn eins dabei ist. Dieses Akkumulieren von genug Gewicht im Gesamten, das macht die Faszination aus.

Tipp Nr. 12: Erwarte nicht zu viel

Entweder passiert eine Situation, eine Art filmische Szene, in die du etwas hineininterpretieren kannst. Dann beginnst du zu fotografieren. Es braucht irgendeinen Impuls oder auch nur ein Bauchgefühl, bei dem du sagst, ich habe das Gefühl, dort könnte jetzt das und das passieren oder die und die Komponente kommen jetzt aufeinander zu. Du versuchst, Dynamiken zu verstehen und springst dann auf gewisse Sachen an. Wenn du 50’000 Bilder machst und 5 davon landen im Portfolio, dann ist alles gut gelaufen.

5 Bilder in 3 Monaten ist toll. 12 Bilder im Jahr ist top. Erwarte nicht mehr.

Tipp Nr. 13: Push dich

Du lässt dich selber fallen und du hast keine Garantie, dass ein gutes Bild angeflogen kommt. Das kann zwei Wochen, 10 Stunden am Tag einfach nur frustrierend sein und am 15. Tag, am Morgen um halb 10 drehst du dich einmal im Kreis und hast zwei super Bilder. Da ist ganz viel Zufall dabei und Dranbleiben ist extrem wichtig, dann passiert’s. Es ist hart, denn du beginnst, an dir zu zweifeln. Du musst dich pushen. Ein bisschen obsessives Verhalten kann keinem künstlerischen Vorhaben schaden. Dieses Auf und Ab und diese Selbstzweifel, das ist der «usual mode».

Tipp Nr. 14: Distanziere dich

Jens Krauer lässt seine Bilder monatelang liegen. Wenn du das tust, bekommst du einen emotionalen «Disconnect» zu dem Gefühl, das du im Moment des Fotografierens hattest. Du wirst für die eigene Arbeit ein aussenstehender Betrachter. Du bist dann emotional so distanziert, dass dich das einfach nicht mehr belastet. So fällt es Jens Krauer leichter, von 1000 Bildern 999 als schlecht zu beurteilen. Viele Leute gehen fotografieren und halten sich an Bildern fest. Jens Krauer hält sich bewusst nicht an Bildern fest. Es hilft, eine gewisse Objektivität zu gewinnen. Ganz hast du sie nie. Deshalb verlässt sich Jens Krauer auf die Hilfe von zwei Editorinnen. Ihn interessiert, welche Bilder schlecht sind. So wird er diese los. Ein «painfull» Prozess.

Tipp Nr. 15: Trainiere auf der Strasse

Die Streetfotografie hat eine meditative Komponente, denn sie ist meistens nicht an ein Zeitlimit gebunden, weil du ja keinen Auftraggeber hast. Du finanzierst dir das Projekt selber vor. Dann bist du einfach unterwegs. Es ist eine Art Training, da kannst du dir so viel Zeit nehmen, wie du willst und produzieren, was du willst. Machst du hingegen ein Dokprojekt, bist du an eine Zeit gebunden und hast ein Budgetlimit. Du kannst deine Erfahrung aus der Streetfotografie dazu nutzen. In der Dokumentar-Fotografie musst du dann einfach schneller an den Punkt kommen, wo du «in tha Zone» bist, wo du einfach funktionierst und reflexartig abdrückst.

Tipp Nr. 16: Mach dich mit den Gesetzen vertraut

Bevor du dich in anderen Ländern auf die Strasse stellst, solltest du dich mit der jeweiligen Gesetzeslage auseinandersetzen. In gewissen Ländern haben es Streetfotografen leichter als in anderen. Bei uns gibt es einen Kunstartikel, bei dem du zuerst beweisen musst, dass du ein Künstler bist. Hast du gerade erst mit Fotografieren. angefangen, ist das ziemlich schwierig.

Tipp Nr. 17: Nebel ist die grösste Softbox der Welt

Du kannst aus jeder Situation etwas machen, wenn du weisst, was möglich ist. Hartes Licht gibt harte Schatten. Damit kannst du arbeiten. Schlechtes Wetter gibt spannende Szenen. Nebel ist super, das ist die grösste Softbox der Welt. Am spannendsten ist es am Morgen, am Abend und in der Nacht. Und Regen, Wind und Schnee bringen Variationen in die Szenerie.

Tipp Nr. 18: Überlege, bevor du abdrückst

Überlege, wer du bist und ob du mit deinen Fotos allenfalls Klischees bedienst und fotografiere bewusst. Jens Krauer achtet in seiner Arbeit darauf, visuelle Stereotype zu vermeiden. So entstehen keine Missverständnisse. Ein klassisches Beispiel, bei dem er nicht abdrückt, sind Obdachlose. Ausser es findet eine symbolträchtige Interaktion statt, die für beide stimmt, dann kannst du darüber nachdenken.

Tipp Nr. 19: Gib den Betrachtern einen Assoziationspunkt

Versuche einen Einstiegspunkt für eine Assoziation zu kreieren. Jens Krauer ist es wichtig, dass die Betrachter Emotionen aus seinen Bildern ziehen. Diesen Prozess möchte er einleiten und das macht für ihn gute Bilder aus.

Tipp Nr. 20: Finde deinen eigenen Style

Ruhige Bilder, Nähe, klare Hintergründe und klar herausgestellte Subjekte, die wie ein grafisches Gesamtkonstrukt wirken, ist Jens Krauers Handschrift. Er fotografiert mit einer offenen Blende, da dies seinen Stil unterstützt. Ihm wurde auch schon gesagt, dass seine Fotos an Filmstills erinnern. Bei uns haben seine Bilder das Kopfkino aktiviert. Mit in seinem Rucksack hat er seine Fujifilm Kamera und sein Lieblingsobjektiv Fujifilm 56mm 1.2. Damit kann man ihn auf jeder Strasse aussetzen.

Tipp Nr. 21: Finde ein Thema

Jens Krauer hält Verschwindendes fest. Menschen, Sachen, Quartiere, Lebensräume. Auch Menschen am Rande der Gesellschaft. Für Jens Krauer haben diese Menschen Geschichten, ein Gewicht, sie haben Spuren hinterlassen, sie haben einen kulturellen und menschlichen Wert. Dies alles möchte er festhalten. Damit sie nicht vergessen gehen und man sich in 10, 20 Jahren, wenn man sich die Fotos anschaut, wieder an sie erinnert.

Tipp Nr. 22: Pack deinen Rucksack sorgfältig

So, gleich lassen wir dich auf die Strasse springen. Weisst du noch, was du nebst Kamera und Objektiv in deinen Rucksack packen sollst? Du packst in deinen Rucksack, genau, ein gutes Moralgerüst, eine situative und emotionale Intelligenz und die Bereitschaft, etwas zurückzustehen, wenn es jemandem nicht guttut. Alles klar? Alles klar und jetzt los, viel Spass auf der Strasse. Und vergiss nicht: Wenn du an etwas glaubst, dann mach‘s einfach. Es kommt gut.

Herzlichen Dank an Jens Krauer für seinen spannenden Einblick in die Streetfotografie. Für alle, die nach Jens Krauer Ausschau halten: Man sieht ihn demnächst nicht in Zürich. Wir wünschen ihm gutes Gelingen beim Unsichtbar sein. Seine inspirierenden Arbeiten findest du auf jenskrauer.com

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