07.12.21 zurück

Im Gespräch mit Jean-Marc Yersin

Seine Bilder zeigen monumentale Umwelten aus Beton, gerahmt in einer klaren und konstanten Bildsprache. Seit 2018 ist der Fotograf und ehemalige Co-Direktor des Schweizerischen Kameramuseums zu seiner ersten Leidenschaft zurückgekehrt und setzt mit VESTIGES einen Zyklus von Bildern fort, die ihn bereits vor dreissig Jahren inspirierten. Während die Umwelt einem steten Wandel unterliegt, so blieben Bildsprache und Motivwahl eine Konstante in seinem Schaffen. Er rahmt in Schwarz-Weiss, die Kompositionen sind geometrisch, kontrastreich und scharf, das Format ist das Quadrat, und die Motive sind Betonpfeiler, Autobahnbrücken und Industriebauten, die irgendwo in der Landschaft der Genferseeregion, der Rhône und der Alpen stehen. Für den Fotografen visualisieren diese Betonbauten eine Spannung, die unserer Zeit eingeschrieben ist: einen Konflikt zwischen der gebauten Umwelt und den Landschaften, zwischen Gegenwart und Zukunft. Nach Ansicht von Jean-Marc Yersin könnte so die Industriearchitektur in einigen Jahrzehnten aussehen. Diese Bestandsaufnahme eines im Entstehen begriffenen Territoriums wird nun erstmals in der Einzelausstellung VESTIGES – SPUREN im Schweizerischen Kameramuseum ausgestellt. Wir haben uns mit dem Fotografen über seine Ästhetik und Praxis und den Begriff der Spur unterhalten.
2 A2 BISONNE MUR DE PROTECTION CONTRE LE BRUIT

Was war Deine erste Begegnung mit Fotografie?

Ich war etwa 12 Jahre alt, als wir alte Zeitungen sammelten, um uns etwas Taschengeld zu verdienen. Eines Tages fand ich eine ganze Reihe alter Prisma-Enzyklopädien über fotografische Technik, die in den 1940er Jahren veröffentlicht wurden. Diese Lektüre hat mich fasziniert, ebenso wie Zeitschriften wie PHOTO oder ZOOM. Wenn ich inmitten all dieser Erinnerungen nur ein Bild festhalten müsste, wäre es sicherlich „Der Maler des Eiffelturms“ von Marc Riboud. Ich hatte auch ein Exemplar von „La Banlieue de Paris“ an einem Stand auf einem Flohmarkt entdeckt. Dieses Buch, das aus der Zusammenarbeit zwischen Robert Doisneau und Blaise Cendrars hervorgegangen ist und 1949 von der Guilde du Livre in Lausanne herausgegeben wurde, ist für mich immer noch ein Referenzwerk.

Später wurden Sie professioneller Fotograf. Dabei blieben sowohl Bildsprache als auch Motivwahl eine Konstante in Ihrem Schaffen. Was faszinierte und fasziniert Dich noch immer an diesen gebauten “Umwelten”?

Auf ihre eigene Art und Weise sprechen diese Denkmäler eine deutliche Sprache über die Brutalität unserer Beziehung zu unserer Umwelt. Sie werden als Ärgernis empfunden, auch wegen ihrer kraftvollen Ästhetik. Diese Gebäude sind nicht nur Ausdruck der mathematischen Schönheit ihres Designs, sondern auch des Talents der Architekten und Ingenieure, die sie gebaut haben. Darin liegt unsere ganze Widersprüchlichkeit: Wir träumen davon, eine ursprüngliche Natur zu bewahren, während wir gleichzeitig alles daran setzen, sie voll auszubeuten.

Wie passt die Dokumentation im Sinne einer Bestandsaufnahme der Gegenwart in Deine Praxis?

Ich finde es sogar schwierig, die Genres zu trennen. Für mich ist die Fotografie eine globale Geste, sowohl ästhetisch und dokumentarisch als auch fiktional, wie ein Roman oder ein Comic. Die Fotografie ermöglicht es uns, über das Gestern, die Gegenwart und die Zukunft zu sprechen. Es ist möglich, zu informieren, ohne darauf zu verzichten, zu romantisieren, zu antizipieren oder gar zu versuchen, einen Teil des Schleiers über eine mögliche Zukunft zu lüften. Auf diese Weise kann das Bild über die blosse Beobachtung hinausgehen und sich dem Imaginären öffnen, um das Mögliche anzudeuten und vielleicht auf diese Weise zu bewegen, zu hinterfragen, zum Nachdenken anzuregen.

Die Bilder zeugen von einer Absenz des Menschen, und doch visualisieren sie auf eine gewisse Art und Weise eine Spannung zwischen der gebauten und natürlichen Umwelt. Was ist Dein Anliegen mit Deinen Bildern?

Es ist wahr: wenn wir versuchen zu zeigen, was ohne uns Menschen wäre, würden nur unsere Spuren bleiben. Ich weigere mich jedoch nicht, eine mögliche menschliche Präsenz zu integrieren, wenn ich das Glück habe, eine Silhouette, eine Figur zu sehen, die sich konsequent in die Szene einfügt. Das kann ein Mann ohne Zuhause sein, der in den Ruinen eines Bahnhofs in den USA schläft und auf einem Foto aus der Serie CRISE kaum zu erkennen ist, oder die Zeichnung eines ernsten und zerbrechlichen Mädchens, die in VESTIGES an einem Pfeiler einer Autobahn angebracht ist. Aber ich möchte vor allem zeigen, was aus unseren zukünftigen Spuren, die sowohl aus dem Übermass als auch aus den Talenten der Menschheit bestehen, werden könnte, und darüber nachdenken.

Wie können wir uns den Prozess von der Idee bis zum Bild vorstellen?

Über die Konzeption des Projekts hinaus versuche ich, das Thema bis in die kleinsten Winkel zu erforschen und die Magie dieser besonderen Orte zu nutzen, was es mir erlaubt, zu versuchen, das zu erfassen, was diesen Wunsch auslöst, „das Foto zu machen“… in der Hoffnung, dass es sich in dem zukünftigen Bild zeigt. Dazu ist es notwendig, den besten Blickwinkel im optischen Sinne des Wortes zu finden, damit die Elemente des Motivs zusammenpassen und kein Raum, keine Form die Kohärenz des Bildes stört. In diesem subtilen Spiel der Suche nach dem „idealen“ Standpunkt kommt eine andere Sprache ins Spiel, die nicht mehr verbal, sondern eher instinktiv, intuitiv ist. Es ist eine rein visuelle Sprache, nicht aus Worten, sondern aus Linien, Raum, Atmosphäre… Licht. Aber der Prozess hört nicht im Moment der Aufnahme auf, sondern setzt sich mit der Ausarbeitung des Drucks fort, der das Bild materialisiert. Um erfolgreich zu sein, sollte das Bild „selbstgenügsam“ sein, ohne Anweisungen auskommen.

Auffallend an der Ästhetik ist auch das Format: das Quadrat. Warum dieses Format des Bildes?

Die Wahl des quadratischen Formats geht auf eine Beobachtung zurück: Wenn wir eine Publikation oder eine Ausstellung konzipieren, sprechen oft zwei Bilder miteinander, ergeben einen Sinn, bilden eine Erzählung, aber das eine im Hochformat, das andere im Querformat, kollidieren, widersprechen einander und bringen die Kontinuität des Blicks, der Lektüre, ins Stocken. VESTIGES sollte von Anfang an über einen langen Zeitraum hinweg produziert werden, mit Bildern, die im Abstand von zehn Jahren entstanden, die eine Geschichte aufbauen, eine Kontinuität des Zwecks schaffen, die Erzählung unterstützen sollten. Daher die Entscheidung, mir dieses quadratische Format systematisch aufzuzwingen, was aber nicht immer einfach ist.

Erstmals wird Dein umfangreiches Schaffen in der Ausstellung VESTIGES – SPUREN im Schweizerischen Kameramuseum ausgestellt. Spannend ist, dass die “Spur” besonders im Kontext von Fotografietheorie und -geschichte ein oft thematisierter Begriff ist. Kannst Du uns den Titel der Ausstellung anhand Deiner Arbeiten erklären? 

Der Titel VESTIGES war naheliegend, sobald die ersten Bilder von Autobahnen gemacht wurden, mit den „VESTIGES OF THE A“, benannt nach dem gigantischen Netz nummerierter Verkehrswege, A1, A9, etc. Aber VESTIGES, nicht als fotografische Erinnerung an eine Gegenwart, die unwiderruflich dazu verdammt ist, nur eine Darstellung einer vergangenen Zeit zu sein, sondern als VESTIGES im Entstehen. Denn glücklicherweise sind diese Autobahnen noch nicht in Trümmern und noch weniger verlassen. VESTIGES ist daher als eine Art archäologische Vorwegnahme konzipiert, ein Versuch, eine mögliche Zukunft aufzuzeigen, indem man sich vorstellt, was mit unseren zukünftigen Spuren auf dem Territorium geschehen könnte. Auch wenn die Idee, dass die Fotografie eine Spur ist, ein Zeugnis dessen, „was gewesen ist“, durchaus begründet ist, sollte sie nicht zu systematisch angewendet werden. Man nimmt die Vorfreude, die Fiktion mit Freude an. Das ist ein bisschen das, was ich für die Fotografie beanspruche.

Ein oder zwei Werke, die für Dich eine besondere Bedeutung haben? Warum?

Mir scheint, dass der „Rote Turm des Julierpasses“ mitten im Winter vielleicht das Bild ist, bei dem das Publikum diesen Gedanken der Vorfreude am stärksten spürt. Wenn man den Kommentaren während der Ausstellung zuhört, hört man diejenigen, die es als eine Art monumentale Leinwand auf dem Schnee sehen und die Spiegelungen auf den Fenstern als einfache Öffnungen interpretieren, die den Blick auf die Landschaft im Hintergrund freigeben, etwas, das ich nicht wahrgenommen hatte. Andere sprechen von Science Fiction, beschwören Star Wars oder verweisen auf die Architekturen in den Gemälden von Giorgio de Chirico. Natürlich entgehen mir diese Lesarten meiner Fotografie, die Bilder werden völlig autonom und das reizt mich.

Warum ist es heute und in Zukunft wichtig, sich für die fotografische Dokumentation unserer natürlichen und gebauten Umwelt zu engagieren?

Wie wir sehen, geht der Prozess für mich über die einfache Dokumentation hinaus, die so notwendig ist und die andere Fotografinnen und Fotografen mit Talent machen, um zu versuchen, unser tägliches Leben im Hinblick auf die Spuren, die es für andere hinterlässt, zu hinterfragen.

Die Ausstellung VESTIGES – SPUREN – Jean-Marc Yersin im Schweizerischen Kameramuseum ist noch bis zum 2. Januar 2022 zu sehen. Begleitend zur Ausstellung erschien der gleichnamige Bildband in einer limitierten und nummerierten Auflage von 200 Exemplaren. Mehr unter cameramuseum.ch


Credits: Jean-Marc Yersin, in folgender Reihenfolge
A7 Sous le pont du TGV  Pierrelatte  France, 2018 (Header)
A1 Pont sur  la Menthue Yvonand Suisse, 2014
A40 Viaduc de Frébuge Autoroute des Titans France, 2013
A2 Murs de protection contre le bruit Bissone Suisse, 2018
Carrière Weibel Oberwangen Suisse, 2014
Pyramide sous le barrage Val des Dix Suisse, 2015
Centre d’entraînement  des Paquays Villeneuve Suisse, 2015
Entrée du barrage de Contra Val Verzasca, Suisse, 2019
La tour rouge Col du Julier, Suisse, 2019
A7 Sous le pont du TGV Pierrelatte, France, 2018
Mehr zu Jean-Marc Yersin (link to: http://www.jean-marc-yersin.ch)

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